Heute möchte ich einmal auf eine Aussage eingehen, die man immer wieder mal im Netz liest und die mir ab und zu auch mal im Netz begegnet: „Das ist doch totfotografiert“. Fotografinnen und Fotografen unter euch werden diese Aussage kennen.
Ich finde das immer wieder erstaunlich und möchte erstmal einen grundsätzlichen neutralen wie feinfühligen Gedanken dazu teilen: „What the fuck?“
Ich kann gar nicht zum Ausdruck bringen wie sinnlos ich diese Aussage finde. Dieser Artikel ist keine Abwägung von pro und contra mit „neutralem“ Anspruch, sondern einfach eine klare persönliche Gegenrede mit einigen Gedanken dazu und einer etwas provokanten Ursachenanalyse.
Der Kontext
Ich fange zunächst bei der Aussage selbst an und möchte sie ein wenig beleuchten: Statements, dass Dinge totfotografiert sind, liest und hört man immer wieder. Oft geht es um Motive: sowohl in der Tierfotografie (Beispiel Fotografie von Eisvögeln), wie auch in der Pflanzenfotografie (Beispiel Buschwindröschen), der Makrofotografie (z.B. Bläulinge) oder Landschaftsfotografie (z.B. Buhnenfotografie).
Regelmäßig bezieht sich die Aussage aber auch auf Orte, die „Hotspots“ darstellen, gut besucht sind, häufiger fotografiert werden oder deren Infrastruktur immer weiter erschlossen wird.
Nur ein Beispiel
Schauen wir uns das näher an. Und damit ich es mir dabei nicht einfach mache, nehme ich einen Klassiker, wo nun wirklich viel fotografiert wird und was im Kontext „totfotografiert“ gerne genannt wird: und zwar Island.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie mir beispielsweise mal ein (fremder) deutscher Fotograf in Portugal -am Praia da Marinha fotografierend- erklärte, dass Island für ihn nie in Frage kam, da es ja viel zu überlaufen sei und die Motive alle vielfach fotografiert wurden.
Zur Sinnhaftigkeit
Erstmal ist es schon etwas witzig, das gerade am Praia da Marinha zu tun. Das ist ungefähr so, als würde ich am Eifelturm stehend erklären, dass ich mich in Frankreich grundsätzlich gerne in der Abgeschiedenheit bewege 😅
Wie auch immer: diese Aussage auf ein ganzes Land zu beziehen, dass so ziemlich alle Landschaftsformen Europas und eine riesen Fauna bietet, ist natürlich Quatsch; kann aber gut sein, dass ihm die Vielfalt der Landschaft sowie die Größe des Landes gar nicht bewusst waren, er war ja noch nie dort. Ich bleibe aber mal bei dem Beispiel, da einem diese Aussage auch "im Netz" in Bezug auf Island häufiger begegnet.
Es gibt dort so viele Spots und Gebiete, die unfassbar vielseitig sind und praktisch unendlich viele Perspektiven und Motive bieten. Etwa das ganze Gebiet um den Vatnajökull-Gletscher, bis hin zum Skaftafjell. Dann die Küsten von Snaefellsnes, die Klippen und Steinlandschaften rund um Dyrholaey, die Westfjorde, der Pingvellir Nationalpark, das Hochland etc.
Ihr findet daher übrigens auch in der Bildauswahl dieses Blogeintrages ausschließlich Bilder von „totfotografierten“ isländischen Spots, mit Ausnahme des kleinen Hasen am Ende des Artikels 😉
Mitten in der Bubble
Eine Sache möchte ich noch beiläufig erwähnen, die für alle weiteren Gedanken dieses Artikels relevant sind: die Frage, ob Dinge wirklich totofotografiert sind, stellt sich ohnehin nur in einer Innenansicht, also innerhalb der Bubble von Fotografierenden, wenn man die eigenen Werke oder Vorhaben mit denen anderer FotografInnen vergleicht. Außerhalb dieser Bubble interessiert das überhaupt niemanden und innerhalb dieser Bubble bei weitem nicht Jeden.
Denn zur Erinnerung, diese „Menschen außerhalb“ sind mit 99,9% leicht in der Überzahl 😅 Die nachfolgende Szene zum Beispiel zeigt einen absoluten Klassiker an Motiven - wenn ich diese Szene 100 Menschen meines erweiterten Familienkreises zeigen würde, wüsste exakt niemand den Ort.
Für den weiteren Artikel beschäftige ich mich aber mal mit dieser Innenansicht.
Machen wir es konkreter
Ich mache es mir jetzt schwer und zeige mal am Beispiel eines wirklich sehr touristischen Hotspots auf, warum für mich so gut wie nichts „totfotografiert“ ist. Wir gehen gedanklich zur berühmten Jökulsarlon Gletscherlagune, wo zu den „falschen Uhrzeiten“ mehrere hundert Menschen täglich an den drei Hauptparkplätzen anlanden.
Für mich als Naturfotograf ist es bei jedem mehrtägigen Besuch an diesem vielseitigen Spot möglich, vielleicht 0,1% der Bildideen wie auch 0,1% der Wetterbedingungen umzusetzen, die hier in spektakulärer Weise möglich sind. Aber warum ist das so?
Ich habe es mal durchgezählt: mit einem Radius von circa 20 Fahrminuten aus kenne ich im Gebiet der Gletscherlagune mindestens 14 Areale (je mind. 400m lang) mit jeweils sehr unterschiedlichen Motiven und Perspektiven, die man dort ablichten kann. Und die sehen dann nochmal je nach Jahreszeit, Wind- und Wetterlage, Mondstand und Nordlichtern wiederum komplett unterschiedlich aus.
Ich war in den letzten 10 Jahren sicherlich schon mindestens an ca. 50 Tagen an diesem Ort und habe vielleicht 3% der Bilder umsetzen können, die mir dort durch den Kopf gehen, wobei auch immer wieder Neue Ideen hinzu kommen. Um das an diesem Beispiel klar zu sagen: ich könnte dort selbst an 200 Tagen am Stück fotografieren, etwa von Februar bis zum Spätsommer, und mir würde definitiv nicht langweilig werden.
Doch was interessiert jemanden noch, der schon > 50 Tage vor Ort war?
Ich habe es zum Beispiel noch gar nicht geschafft….
- diverse Bildideen (Landschaftsaufnahmen) mit Offenblende zu generieren, wo ich im Gegenlicht Unschärfekreise mit dem Sand oder den Eisstrukturen produziere
- „halb-halb-Unterwasseraufnahmen“ in der Lagunenseite umsetzen (sowohl in der Landschafts- als auch Tierfotografie hochinteressant)
- mich den Eis- und Sterntauchern zu widmen, die direkt neben der Gletscherlagune brüten (ganz tolle Habitate!)
- mit dem Makro die Eisstrukturen des Diamond Beach mit der letzten Himmelsfärbung zu „bearbeiten“
- das Gebiet mit dem Boot zu erkunden und endlich mal eine Robbe auf einem Eisberg zu fotografieren
- die größeren tiefblauen Eishöhlen auf dem Gletscher zu erkunden
- an einer bereits identifizierten Stellen Polarfüchse zu beobachten, die dort scheinbar Bauten haben
- Landschaftsaufnahmen durch Eislöcher hindurch bei schönem Himmel zu generieren
- richtig intensive Polarlichter am Diamond Beach einzufangen (grüne Reflektionen im Eis)
- einer Serie über die balzenden Schneeammern und Goldregenpfeifern im westlichen Lagunen-Gebiet zu erstellen
- die interessanten Landschaftsperspektiven der nördlichen Lagunenseite abzulichten und dort ordentliche 180° Panoramen zu erstellen
- eine spezielle Langzeit-Gegenlichtaufnahme Aufnahme umzusetzen, die mir seit 1 Jahr im Kopf herum schwebt (an einer riesigen Seeschwalbenkolonie gleich „ums Eck“)
Für jedes einzelne Thema bräuchte ich mindestens einige Tage und sehr spezifische Wetterbedingungen. Und DAS HIER sind ja nur die Dinge, die ich dort noch gar nicht gemacht habe. In der Auflistung sind ja nicht einmal die vielen Wunschszenarien hinsichtlich Wetterphänomene inkludiert, bei denen ich mich nochmal gerne der klassischen Weitwinkelfotografie widmen würde.
Genauso fehlen die vielen Bildideen, die man erst spontan bekommt, wenn man den Ort und die besonderen Tagesbedingungen in Ruhe auf sich wirken lässt.
Das alles habe ich nun extra so detailliert aufgelistet, damit klar wird, dass ich vermutlich 547 Jahre alt werden müsste, um zum Beispiel nur in diesem einen Gebiet sagen zu können, dieses für
mich „totfotografiert“ zu haben.
Doch warum existiert dann dieser Begriff? Meine (etwas provokanten) Hypothesen
Ich glaube schon an diesem ersten Beispiel dürfte klar werden, dass die Aussage aus fotografischer Sicht häufig nicht wirklich Sinn macht. Schon aus Gründen der Motivvielfalt und stetiger Veränderung der Natur.
Und ich war ja noch gar nicht bei dem Thema, dass man mit Kreativität auch bei den gleichen Motiven immer neue Perspektiven finden kann. Und auch noch nicht an dem Punkt, dass es Jahres- oder Tageszeiten gibt, wo ich auch „Hotspots“ völlig leer erlebe.
Doch warum fällt dann trotzdem immer wieder mal diese Anmerkung?
Genauso klar und deutlich wie das Wort „totfotografiert“ formuliert ist, möchte ich auch meine Hypothesen dazu formulieren. Nach meiner Beobachtung spielt meist EINER dieser Gründe eine große Rolle:
1. Der Qualitätsanspruch ist gering – klar: wenn ich an das Licht, die genaue Wolkenstruktur, die Vordergrundgestaltung, das Bokeh etc. keine allzu hohen Ansprüche habe, grase ich ein Gebiet oder Motiv natürlich wesentlich schneller ab (schrecklicher Begriff, der ohnehin nicht meiner Art der Fotografie entspricht)
2. Man ist nahezu dogmatisch in einem Genre verhaftet, und sogar innerhalb eines Genre stark begrenzt - z.B. in der Landschaftsfotografie an bestimmte Wetterlagen, Brennweiten bzw. Bildkompositionen. Je enger die „Scheuklappen“, desto schneller habe ich natürlich auch ein Thema oder einen Ort für mich selbst „totfotografiert“ – wie schade, wenn man sich doch die Vielfalt der Natur vor Augen führt!
3. Unwissenheit über die tatsächlichen Gegebenheiten und die Vielfältigkeit eines Ortes oder das Verhalten und Habitat von bestimmten Tier- und Pflanzenarten
4. Es fehlt an Kreativität oder den Fähigkeiten einem vielfotografierten Motiv die eigene Handschrift aufzusetzen oder ein Bild zu produzieren, das aus der Masse hervorsticht und in Erinnerung bleibt
5. Unabhängig der Tatsachen möchte man dies genau so sehen - das ist ein Punkt, der mir grundsätzlich öfter auffällt, wenn Fotografen Orte, Motive oder Bilder beurteilen: nach meiner Erfahrungen sind die Urteile oft -vermutlich unterbewusst- gefärbt von eigenen eingeschränkten Möglichkeiten (aufgrund privater oder beruflicher Umstände)
Mein Fazit
Zum Schluss will ich eine kleine Brücke bauen: selbstverständlich ist mir klar, dass es an einigen wenigen spezifischen Orten herausfordernd ist, ein Bild zu generieren, das als Unikat in Erinnerung bleibt und nicht bereits nahezu 1:1 umgesetzt wurde. Auch das man je nach eigenem Geschmack von Zeit zu Zeit gewisse Sättigungseffekte spürt kann ich ebenso nachvollziehen. Mir persönlich geht das zum Beispiel seit Längerem mit Nordlicht- und Drohnenaufnahmen so, die oft eine hohe Ähnlichkeit aufweisen.
Wieviele Bilder aber grundsätzlich schon von einem Ort existieren spielt in meinen Augen keine große Rolle – es wird vielmehr dort "schwierig", wo Wunsch-Perspektiven aufgrund von Menschenansammlungen und einhergehender Veränderung des Spots nicht (mehr) möglich sind und es auch überhaupt keine Jahres- oder Tageszeiten mehr gibt, die Freiheiten in der Perspektivwahl zulassen. An solchen Orten kann das Fotografieren mittlerweile frustrierend sein, gerade wenn man es nur auf Weitwinkelbilder abgesehen hat. Das sind jedoch wenige, meist sehr kleine Spots oder gar nur konkrete Perspektiven, und selbst diese würde ich nicht als „totfotografiert“ bezeichnen.
Denn dieser Begriff ist schließlich anders gemeint; er bietet keinen Spielraum für eine differenzierte Betrachtung, sondern schließt Dinge von Anfang an aus. Daher ist der Begriff in meinen Augen meist eher eine unbedachte oder unwissende Äußerung, manchmal jedoch auch unterbewusstes Wunschdenken, um FOMO zu reduzieren.
Ich beobachte ab und zu auch einen fast schon zum Dogma gewordenen Drang, bekanntere "überlaufene" Orte zu meiden, auch wenn es Orte sind, die je nach Jahres- oder Tageszeit absolut leer sind. In meinen Augen passiert das dann, wenn man sehr in der „Bubble“ verhaftet ist und stark nach rechts und links schielt.
De facto sind meiner Meinung nach an den meisten Stellen, wo dieser Begriff fällt, nicht einmal 1% der fotografischen Möglichkeiten ausgeschöpft, was ich auch im Artikel anhand des Beispiels Jökulsarlon einmal sehr ausführlich erläutert habe…daher ist mir der Begriff viel zu kurz getreten.
Am Ende gibt es einfach gute Gründe, immer wieder Neues auszuprobieren und genau so viele gute Gründe, weiter und tiefer an bekannten Motiven oder in bekannten Gebieten zu arbeiten, sie sind schließlich auch nicht ohne Grund bekannt. Alles andere wäre auch komisch. Sonst wäre ja im oben genannten Beispiel ein isländischer Fotograf benachteiligt und würde am falschen Ort wohnen 😅 Dabei ist ganz sicher genau das Gegenteil der Fall…
Mit Können, Kreativität und vor allem Leidenschaft kann ich nach wie vor an jedem Ort dieser Welt Bilder kreieren, die ein Wow! hervorrufen, auch in der kleinen „Bubble“ von Fotografierenden - außerhalb ja sowieso.
Auch mit Blick auf die Tierwelt sehe ich das so: in Deutschland zum Beispiel sind die meistfotografierten Tiere sicherlich Rehe, Füchse, Hasen und bestimmte Vogel-, Schmetterlings- und Libellenarten.
Wie traurig wäre es doch, wenn man gute Fotos nur noch mit exotischen Raritäten umsetzen könnte? Ich für meinen Teil bin sehr froh darüber, dass täglich neue und schöne Aufnahmen dieser tollen heimischen Tiere erscheinen und die Lösung nicht lautet, nur noch mit riesigem Reiseaufwand an immer exotischere Orte zu seltenen Motiven zu „fliehen“.
Ein wirklich tolles Rehbild im Gegenlicht aus der Nachbarschaft würde ich jederzeit einem durchschnittlichen Eisbären-Bild vorziehen, hier bringt die vermeintlich „totfotografierte“ Art in meinen Augen keine Nachteile bei der Beurteilung eines Bildes. Genau dieses Prinzip fühle ich auch in der Landschaftsfotografie und jedem anderen Genre der Naturfotografie.
Das sind also meine Gedanken zum Thema und hier möchte ich es für heute gut sein lassen – und danke für euer Interesse👋
Viele Grüße,
Thomas